Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit
ab 2005 an der Universität Hamburg herausgegeben von Claudia Maurer Zenck und Peter Petersen
unter Mitarbeit von Sophie Fetthauer
http://www.lexm.uni-hamburg.de/
geb. am 12. Apr. 1919 in Budapest, Ungarn, Komponist, Kompositionslehrer.
István Anhalt wurde am 12. Apr. 1919 als Sohn des Buchhalters Arnold Anhalt und seiner Frau Katalin Herzfeld (Harmat) in Budapest geboren. Nach der Scheidung der Eltern des einjährigen István wuchs er bei der Mutter auf, zog als Zwölfjähriger zum Vater und dessen zweiter Frau Elisabeth Steinitz und ein paar Jahre danach zu den Großeltern mütterlicherseits. Die Familie war nicht ausgeprägt musikalisch, wenngleich der Vater Amateurgeiger war. Den Klavierunterricht, den Anhalt als Sechsjähriger begonnen hatte, musste er nach sechs Jahren aufgrund von Geldknappheit abbrechen. 1936, ein Jahr vor dem Schulabschluss am Dániel Berzsenyi Real-Gymnázium, nahm er dennoch Kompositionsstunden bei Géza Falk. Diese erleichterten ihm 1937 die Aufnahme in die Ferenc Liszt Akademie, wo er Komposition bei Zoltán Kodály studierte. 1941 schloss er sein Studium an der Akademie ab, immatrikulierte sich in türkischer Linguistik an der Pázmány Universität und besuchte einen Dirigierkurs bei János Ferencsik.
Seit seiner Schulzeit war Anhalt als Jude im proto-faschistischen Ungarn Miklós Horthys mit dem Antisemitismus konfrontiert worden und hatte nun zunehmend mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Waren bereits 1920 die ersten antisemitischen Gesetze erlassen worden, so verschlimmerte sich die Lage 1940. Nach territorialen Zugeständnissen Hitlers war Ungarn, das die nach dem ersten Weltkrieg verlorenen Gebiete zurückzuerlangen und sich als dritte Großmacht neben Italien und Deutschland zu etablieren hoffte, 1940 den Achsenmächten beigetreten und übernahm 1941 mit seiner Armee in der Operation Barbarossa einen Teil der russischen Front. Am 1. Dez. 1942 wurde Anhalt de facto exmatrikuliert und zur Zwangsarbeit in der ungarischen Armee eingeteilt, ein Schicksal, das er mit vielen anderen jungen jüdischen Ungarn teilte, zum Beispiel György Ligeti. Anhalts Zwangsarbeitseinheit war in Bereck in den Karpathen an der ungarisch-rumänischen Grenze stationiert und wurde im siebenbürgischen Elöpatak (heute Vilcele, Rumänien), in Volóc (heute Ukraine) sowie im polnischen Stanislau (heute Ivano-Frankovsk, Ukraine) eingesetzt. Nachdem im Mai 1944 die systematische Deportation aller ungarischen Juden in das KZ Auschwitz begonnen hatte, entfloh Anhalt – nach einem ersten missglückten Fluchtversuch im Sommer – im November 1944 dem Zwangsarbeitsdienst. Der Priester János Antal, dessen Andenken Anhalt später sein Bühnenwerk „La Tourangelle“ widmete, verkleidete ihn als schlesischen Priester, und die befreundete Familie de Kerpely versteckte ihn bis zum Kriegsende in Budapest. Theresa de Kerpelys Roman „A Crown for Ashes“ sowie ihre Autobiographie „Of Love and Wars“ berichten über diese Zeit.
Nach einer kurzen Anstellung als Repetitor an der Budapester Oper ab Februar 1945, die im Sommer 1945 nicht verlängert wurde, verließ der inzwischen staatenlose Anhalt im Januar 1946 Ungarn und ging nach Paris. Unterstützt durch ein Stipendium der Union des Étudiants Juifs de France studierte er dort privat Komposition bei Nadia Boulanger und Klavier bei Soulima Stravinsky sowie mit einem Stipendium am Conservatoire Dirigieren bei Louis Fourestier.
1949 emigrierte Anhalt mit Hilfe eines Lady Davis Fellowship nach Kanada. Diese Stipendien gab es seit 1948, um staatenlosen europäischen Intellektuellen die Einreise nach Kanada zu ermöglichen. Als Lady Davis Fellow wurde Anhalt 1949 Assistenzprofessor an der Musikabteilung der McGill University in Montreal. 1955 erhielt er die kanadische Staatsbürgerschaft. In den späten 1950er Jahren arbeitete er im Zuge seines zunehmenden Interesses an elektronischer Musik am Electronic Music Laboratory des National Research Council in Ottawa, dem Columbia-Princeton Center in New York sowie an den Bell Telephone Laboratories in Murray Hill in New Jersey. 1960 und 1961 erhielt er Stipendien des Canada Council für elektronische Musikforschung und des Columbia-Princeton Electronic Music Center. Von 1963 bis 1969 war er Chair des Department of Theoretical Music an der McGill University, und 1964 gründete er ebendort das erste kanadische Studio für elektronische Musik, dem er bis 1971 vorstand. 1969 war Anhalt Slee Visiting Professor für Komposition an der State University of New York und von 1971 bis 1981 Direktor des Music Department der Queen’s University in Kingston, Ontario, wo er 1984 emeritiert wurde. 1982 und 1991 erhielt Anhalt Ehrendoktorwürden der McGill und Queen’s Universitäten.
Aus der Studienzeit am Liszt Konservatorium in Budapest sind keine Werke erhalten; während der Zeit als Zwangsarbeiter und im Budapester Kriegsversteck komponierte er nicht. Abgesehen von dem Chorwerk „Ünnepek“ (1942) beginnt die nachweisbare Kompositionsgeschichte in der Nachkriegszeit während der Studienzeit bei Nadia Boulanger, aus der einige wenige neo-klassische Werke datieren.
Für einen Schüler Zoltán Kodálys und Nadia Boulangers mag es erstaunlich sein, dass sich Anhalt nach der kanadischen Immigration der Dodekaphonie zuwandte, so in der „Fantasia“ und Violinsonate (beide 1954) und der Symphonie (1954-1958). Kam ihm damit im musikalisch konservativen Kanada Pionierstatus zu, so liest sich die nächste Phase in Anhalts Schaffen noch progressiver. Mit der Einrichtung des Studios an der McGill University gehen seine elektronischen Kompositionen aus den Jahren 1959 bis 1961 einher. Wenngleich sich Anhalt von der rein elektronischen Musik wieder abwandte, benutzte er in folgenden Werken oftmals Tonbänder, so in „Symphony of Modules“ und „Cento“ (beide 1967).
Von den späten 1960er bis in die 1980er Jahre komponierte Anhalt fast ausschließlich Vokalwerke, oft für die Bühne und mit historischen Sujets. „La Tourangelle“ (1975) behandelt die Ursuline Marie Guyard („Marie de l’Incarnation“, 1599-1672), die 1639 als Missionarin nach Kanada kam, „Winthrop“ (1986) den ersten Gouverneur von Massachusetts, John Winthrop (1588-1649). Das Interesse an Vokalmusik und der Stimme überhaupt führte auch zu einigen Publikationen, vor allem dem Buch „Alternative Voices“ (1984). Seit den späten 1970er Jahren zeigen sowohl Anhalts Schriften als auch seine Kompositionen die Beschäftigung mit seiner Autobiographie sowie seinem Judentum im Besonderen und dem Judentum im Allgemeinen. „Thisness“ (1986) rekapituliert Anhalts eigene Kriegserlebnisse, das den als Zwangsarbeitern umgekommenen jüdischen Mitschülern der Zoltán Kodály-Kompositionsklasse gewidmete „Traces (Tikkun)“ (1994) stellt Erinnerungsmonologe und -dialoge als Spuren der Vergangenheit in der Psyche des Protagonisten dar. Zwischen beiden Kompositionen steht eine ebenfalls mit autobiographischen Aspekten durchsetzte Orchestertrilogie aus den 1980er Jahren, die die Kompositionen „Simulacrum“, „SparkskrapS“ (beide 1987) und „Sonance•Resonance (Welche Töne?)“ (1989) umfasst.
Liest sich die Immigration Anhalts nach Kanada als Erfolgsgeschichte, blieb sein Werk in Europa hingegen bislang weitgehend unbekannt. Angesichts seiner kompositorischen Verbundenheit und inhaltlichen Auseinandersetzung mit der europäischen Geschichte ist dies bedauerlich.
Hauptquellen: MoreyC 1992, BeckwithJ 2001, ElliottR/SmithGE 2001